Reformen – was wollen wir?
Reformen können nur dann erfolgreich sein, wenn die Bürger, d.h. wir alle sie annehmen, wenn wir uns mit ihnen identifizieren – erst dann werden wir ihnen auch in unserem Handeln Rechnung tragen. Dazu müssen wir uns aber vor Augen führen, was wir wollen, wohin uns der Weg, den unsere Entscheidungen bereiten, führen soll. Angesichts der doch vehement geführten Reformdiskussionen könnte diese Frage überflüssig erscheinen – weshalb müssen wir sie dennoch stellen?
Wir, die Bürger, sind das Fundament unseres Gemeinwesens, die Quelle der Legitimation politischer Entscheidungen. Diese Selbstverständlichkeit muß heute in Erinnerung gerufen werden, weil in der politischen Rhetorik von „den Menschen in unserem Land“, der „Bevölkerung“ oder der „Gesellschaft“ gesprochen wird: wir sind aber keine zu manövrierende Masse, sondern diejenigen, die unsere Politiker in ihr Amt gehoben haben und denen sie Rechenschaft ablegen müssen.
Unsere politische Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft der Bürger, unsere politische Ordnung eine Ordnung, die wir – der Volkssouverän – uns gegeben haben. Unsere Freiheit, die wir durch demokratisch legitimierte Institutionen schützen, ist eine Voraussetzung dafür, daß wir uns überhaupt solche Institutionen geben können. Wir verlassen uns darauf, daß alle diese Auffassung, zumindest in der überwiegenden Mehrheit, teilen, sonst könnte unser Gemeinwesen die Leistungen, die es erbringt, nicht erbringen. Auch die Loyalität derjenigen, die nicht Bürger unseres Landes sind, benötigen wir zur Aufrechterhaltung unseres Gemeinwesens, und in der Regel können wir uns auf sie genauso verlassen. Vertrauen in die Bereitschaft, Verantwortung und Verpflichtungen zu übernehmen, sind also eine notwendige Voraussetzung für unsere Gemeinschaft.
Die Bürger sind die Basis und der Legitimationsgrund politischer Reformbemühungen. Reformen sind nur dann Reformen, wenn sie den Bürger und das Gemeinwesen stärken. Auch bedarf bürgerliche Freiheit des Schutzes, um sich entfalten zu können. Bevormundung und Gängelung ist das Gegenteil von Freiheit.
Worin besteht nun aber die Krise, auf die die sogenannten Reform-Vorschläge reagieren?
Die Krise und die „Reformen“
Einigkeit in der Krisendiagnose besteht in der öffentlichen Debatte nur in einer Hinsicht: so, wie bisher, kann und soll es nicht weitergehen. Die Sozialsysteme seien zu teuer, die Regulierungsdichte zu hoch, unser Land nicht genügend leistungsfähig, sei es in Schulen, Universitäten, Unternehmen usw. Wenn Reformen nötig sind, ist damit allerdings in keiner Weise beantwortet, in welche Richtung sie weisen sollen. Sparen kann kein Selbstzweck sein, sondern wir müssen wissen, wofür wir sparen wollen, wenn es nötig ist.
Wollen wir die Autonomie der Bürger stärken, dann müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, dort Verantwortung alleine zu tragen, wo sie es können, ohne in Existenznot zu geraten. Dort hingegen, wo sie des Schutzes bedürfen, um überhaupt ihre Autonomie zu entfalten, müssen wir sie unterstützen. Ein Gemeinwesen, das den Bürger stärken will, muß ihm Entscheidungsfreiheit einräumen mit all ihren Konsequenzen. Entscheidungsfreiheit heißt nicht einfach Freiheit von staatlicher Regulierung, sondern Freiheit durch Unterstützung, dort, wo sie notwendig ist. Freiheit ist nur dann gewährleistet, wenn man nicht als erstes über eine mögliche Existenznot nachdenken muß, bevor man eine Entscheidung trifft – man muß auch auf die Unterstützung der Gemeinschaft zählen können.
Reformen sind dann keine Reformen, wenn durch die Einführung stärkerer Kontroll- und Verpflichtungssysteme Bürger zur Verantwortungsübernahme genötigt werden sollen. Reformen, die auf eine Verstärkung der Kontrollsysteme hinauslaufen, werden unserem Land langfristig schaden.
In allen Bereichen – Arbeitsmarkt, Sozialsicherungssysteme, Bildung – werden eine hohe Regulierungsdichte, Starrheit und mangelnde Anpassungsfähigkeit an Erfordernisse der Zeit beklagt. Darauf wird mit Deregulierung geantwortet, aber mit einer Deregulierung, die eine neue Bürokratisierung mit sich bringt. Mit einer Deregulierung, die dort Marktwettbewerb einführen will, wo er nicht produktiv, sondern zerstörerisch ist. Wettbewerb ist nicht gleich Wettbewerb. Zwei Beispiele seien hier angeführt. Innovation und Leistung in der Wirtschaft bedürfen des Marktes. Innovation und Leistung an Universitäten folgen einem ganz anderen Wettbewerb: nicht am Markt, sondern am Erkenntnisfortschritt, der notwendig seiner Zeit weit voraus ist, orientieren sie sich.
Dort, wo Deregulierung die der Sache angemessene Antwort darstellt, sollte sie durchgeführt werden. Dort aber, wo eine Re-Regulierung vonnöten ist, sollte keine Deregulierung stattfinden. Wenn wir unsere politische Gemeinschaft stärken wollen, wenn dies unser Ziel ist, muß die Autonomie der Bürger, unsere Autonomie, gestärkt werden. Wo wir die Verantwortung für Entscheidungen in unserer Lebensführung übernehmen können, ohne daß damit Ängste verbunden sind, wie die, die eigene Existenz finanziell nicht abgesichert zu sehen, sollte sie uns überlassen werden. Dort hingegen, wo wir sie nur übernehmen können um den Preis, unsere Autonomie langfristig zu gefährden, sollte ein institutionelles Arrangement geschaffen – oder erhalten – werden, das uns von den Folgen entlastet bzw. sie auf eine Solidargemeinschaft überträgt. Die Frage muß dabei immer sein: wie stärken wir die Autonomie, also auch diejenige, mit der eigenen Gesundheit sorgsam umzugehen und ihre Bewahrung bzw. Wiedergewinnung zu fördern.
Betrachten wir die Reformbemühungen in allen Bereichen, die zur Zeit öffentlich debattiert werden, stellen wir fest, wie wenig sie eine substantielle Stärkung unserer Autonomie zur Folge haben werden – zumindest in ihren Konsequenzen nicht, auch wenn gute Absichten sie hervorgebracht haben.
Was die Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft, sei es das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosenhilfe oder die Sozialhilfe, keines der Reformvorhaben zeichnet sich durch Vertrauen auf die Autonomie und das Verantwortungsempfinden der Bürger aus. Stärkere Kontrollen, die sich in der Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme, der Zwangsverpflichtung zu Diensten oder der Leistungskürzung bei „Arbeitsunwilligkeit“ niederschlagen, prägen die Vorschläge der Parteien. Kontrollen, die verstärkt auf Sozialleistungsempfänger ausgeübt werden sollen, bestätigen dies ebenso, und sie bezeugen zugleich, daß unnötige Bürokratie zu- und nicht abnehmen wird. Es erstaunt angesichts des vorzufindenden Mißtrauens in die Autonomie nicht, wenn z.B. im Zusammenhang der Debatten um Sozialleistungsempfänger diese nicht mehr vor allem als Bürger aus unserer Mitte betrachtet werden, sondern als Kostenfaktor. Nicht mehr wird die Frage gestellt, ob die entworfenen Lösungen autonomiestärkend oder -schwächend wirken werden. Beschönigende Formeln wie „Fördern und Fordern“, „Leistung soll sich wieder lohnen“ oder „Arbeit statt Sozialhilfe“, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich hinter ihnen vor allem eines verbirgt: Mißtrauen gegenüber Autonomie und Verantwortungsempfinden der Bürger.
Sollen wir etwa Arbeitsplätze erhalten, die durch Maschinen und Automaten zuverlässig und effizient erledigt werden, nur um Beschäftigungsmaßnahmen anzubieten? Beschäftigungsmaßnahmen für Bürger, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte nicht in der Lage sind, eine kontinuierliche und dauerhafte Erwerbstätigkeit anzunehmen? Sollten wir ihnen nicht vielmehr entsprechend ihrer schwierigen Lebensumstände wenigstens ermöglichen, ein Leben jenseits von Bevormundung und Stigmatisierung durch Kontrolle führen zu können? Sollten wir etwa auf die Nutzung moderner Automatisierungssysteme verzichten, nur um Niedriglohnarbeitsplätze einzuführen? Wäre das alles nicht vielmehr ein Rückschritt denn ein Fortschritt an Autonomie? Sollten wir nicht diejenigen schützen, für die ein einfaches Leben zu führen schon schwierig ist, und diejenigen fördern, die leistungsfähig und -bereit sind? Individuelle Beeinträchtigungen wie Bereitschaft zu Leistung müssen wir gleichermaßen anerkennen und nicht durch Zwangssysteme bestrafen.
Auch andere für unsere Gemeinschaft und ihre Zukunft unerläßliche Bereiche werden vom gegenwärtigen Geist der Kontrolle und den aus ihm erwachsenen Maßnahmen geprägt. Kontrollsysteme, die meist anhand formaler und operationalisierbarer Parameter „Qualität“ bestimmen sollen, halten überall Einzug. Management von Qualität, Gesundheit, Kreativität usw. soll suggerieren, es handele sich bei all diesen Bereichen um solche, die mit standardisierten Meßsystemen optimiert werden können. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, die elementaren Bereiche unseres gemeinschaftlichen Lebens ließen sich durch Meßsysteme einfangen, ebensowenig wird Fortschritt durch dieselben erzeugt. Gehofft und gewünscht, vor allem phantasiert wird, diese Meßsysteme könnten eine Steigerung von Qualität verbürgen. Diese Systeme bringen eine erhebliche Bürokratie mit sich, weil alles, was sich ihren Bemessungskriterien nicht fügt, was sich gar nicht „messen“ läßt, unerkannt bleibt. Eine vernünftige innovative Problemlösung kann sich in diesem standardisierten Verständnis nur durchsetzen, wenn sie nach den Meßsystemen als vernünftig definiert wird. Die Meßsysteme selbst werden dadurch aber gar nicht in Zweifel gezogen, sie werden immun gegen Kritik. Ihnen wohnt demzufolge vielmehr der Charakter bürokratischer Kontrolle inne, sie höhlen die Selbstverwaltungsprinzipien von Berufsgruppen aus (Ärzte, Juristen, Forscher u.a.) oder schaffen sie gar ab, nicht ganz ohne die Hilfe derjenigen, die ihre Selbstverwaltung verteidigen und schützen sollten. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: Sagenumwoben beinahe erscheinen Evaluationen von universitärer Forschung und Lehre als das Allheilmittel für die Beseitigung von Mißständen dort, wo Innovation im strengen Sinne ihre Heimat hat: an der Universität. Wer aber evaluiert? Nach welchen Kriterien? Der Versuch, Kriterien für den Erfolg von Forschung und Lehre zu definieren, sieht sich sofort vor der Schwierigkeit, daß dieser Erfolg selbst mit vorweg bestimmten Instrumenten gar nicht zu fassen ist.
Eine entscheidende Frage für die Reformen, die wir vornehmen müssen, ist: Wollen wir Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der Bürger stärken und damit auf die Souveränität der Bürger vertrauen? Oder mißtrauen wir ihnen, dann müssen wir Kontrollsysteme einführen, die die Bürger gängeln und bevormunden, statt die Chancen zur Stärkung der Autonomie zu ergreifen.
In unserem Sinne kann es, vorausgesetzt wir wollen die Autonomie stärken, also nicht sein, wenn Kontrollen und damit Bürokratisierung zunehmen, wo sie nicht benötigt werden. Langfristig werden uns solche Reformen lähmen, sie werden jede Initiative, die immer aus freien Stücken ergriffen wird, schwächen oder gar im Keim ersticken. Schon heute ist der demotivierende und Resignation hervorbringende Effekt unnötiger Bürokratie und zunehmenden Mißtrauens in die Bürger nicht zu unterschätzen. Diese durch die überholten Regulierungen erzeugte Stimmungslage und das Vermeiden riskanter Entscheidungen tragen ihren Teil zum schwindenden Vertrauen der Bürger in die Entscheidungsträger bei. Die Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, ist dennoch aber unübersehbar.
Unser Problem heute ist also nicht eine fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und initiativ zu werden. Auch fehlt uns nicht der Innovationsgeist, dessen wir für die Beantwortung zukünftiger Fragen bedürfen. Es mangelt an dem Vertrauen darauf, daß er sich entfalten wird, wenn man ihm die Freiräume bereitstellt, ihn schützt, anstatt ihn durch Kontrollen erzwingen zu wollen. Für Initiativen und Verantwortungsbereitschaft gibt es zahlreiche Beispiele, alleine das ehrenamtliche Engagement widerlegt schon alle Pessimisten und Zweifler. Aus aller Munde und manchmal zwischen den Zeilen tönt die Unterstellung, wir, die Bürger, seien faul, träge, apathisch, politikverdrossen und verwöhnt geworden. Mit ihr einher geht die Selbstunterschätzung, wir seien nicht in der Lage, eine solche Verantwortungszumutung auszuhalten. Wird darüber räsoniert, daß es uns zu gut gehe, wofür die mangelnde Bereitschaft in Deutschland stehe, bestimmte Dienstleistungen entweder selbst auszuüben oder als Kunde anzunehmen, wäre dies ganz anders zu verstehen: Wir können darin einen gesellschaftlichen Rückschritt erkennen, Dienstleistungen anzubieten, die unproduktiv sind. Wozu sollen wir unproduktive Tätigkeiten einführen, die entbehrlich sind und nur auf dem Rücken derer gedeihen können, denen es verwehrt ist, eine andere Tätigkeit auszuüben? Solche Dienstleistungen – z.B. der Einpacker im Supermarkt, der Tankservice an der Tankstelle, der Türaufhalter, der Schuhputzer, um nur wenige zu nennen – in Deutschland nicht zu etablieren, ist also Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts, Ausdruck praktischer Vernunft und nicht von Bequemlichkeit.
Weil wir, die Bürger, das Fundament unseres Gemeinwesens sind, müssen wir ernst genommen werden. Nicht sind wir zu wenig bereit, Verantwortung wahrzunehmen, es wird uns zu wenig Verantwortung zugestanden. Wir benötigen keinen „aktivierenden Staat“, denn wir sind keine lahmen Hühner, und wir benötigen auch keine „Anreize“, so als seien wir nicht motiviert.
Wenn heute Bürger sich zu keinerlei Engagement bereit erklären, sollten wir uns zweierlei vor Augen führen: 1) Haben sie angesichts unserer Lage schon resigniert, fühlen sie sich entmündigt und haben das Vertrauen in die Politik aufgegeben? Dann liegt es an politischen Entscheidungen, zu zeigen, daß langfristige Lösungen möglich sind; 2) Es wird immer Bürger geben, die aufgrund ihrer persönlichen Geschichte nicht in der Lage sind, sich gleichermaßen zu engagieren wie andere. Dies zu bestrafen, statt ihnen angesichts ihrer schwierigen Lage ein würdiges Leben zu ermöglichen, wäre ein Armutszeugnis für unsere Gemeinschaft.
Uns müssen Möglichkeiten eröffnet werden, unsere Autonomie zur Entfaltung zu bringen. Dort, wo Chancen schlummern, müssen wir Bedingungen schaffen, damit sie genutzt werden können. Dort, wo die Chancen begrenzt sind, dürfen wir sie nicht durch Wolkenkuckucksheime überhöhen. Wer von den Verkündern in Gestalt unserer „Experten“ hält denn eine Vollbeschäftigung für realistisch? Vollbeschäftigung bedeutet nämlich nicht nur die tatsächliche Beseitigung von Arbeitslosigkeit. Das Vollbeschäftigungspostulat wird solange gelten, solange wir Einkommen an Erwerbsarbeit koppeln und jeder Einkommensbezug über Sozialleistungen als Notfall betrachtet wird. Führt sich aber eine Anzahl an Notfällen von mehr oder weniger 4 Millionen Empfängern nicht ad absurdum? Müssen wir uns nicht fragen, ob unser System noch gerecht ist, wenn es dauerhaft Bürger stigmatisiert, es ihnen vorhält, der Gemeinschaft auf der Tasche zu liegen? Tatsächlich liegen sie der Gemeinschaft aber gar nicht auf der Tasche, sondern signalisieren ihr, das Resultat einer starken Wirtschaft und Technologieentwicklung und -nutzung zu sein. Um daraus Konsequenzen zu ziehen, muß das Einkommenssystem umgebaut werden.
Die Zeit der Vollbeschäftigung ist vorbei, und das ist ein Erfolg, der wesentlich durch die Technologieentwicklung und -nutzung ermöglicht wird, das heißt: durch den Erkenntnisfortschritt. Heute müssen wir anerkennen, daß vormals angemessene politische Regelungen und Verteilungssysteme ihre Grundlagen verloren haben. An den überkommenen Regelungen festzuhalten, heißt: Chancen nicht zu nutzen. Wirkliche Reformen müssen langfristig Probleme lösen und Potentiale fördern, die unter den heutigen Bedingungen nicht genügend zur Entfaltung kommen. Finanztechnische Rechenmodelle helfen uns dabei nicht weiter. Sie beantworten nicht die Frage: Was wollen wir und wohin soll unser Weg führen?
Der Arbeitsmarkt: Leistung statt Umverteilung
Die Krise am Arbeitsmarkt, so wird behauptet, werde von der hohen Regulierungsdichte erzeugt (so die Arbeitgeber) oder von der mangelnden Investitionsbereitschaft in Arbeitsplätze (so die Gewerkschaften). Auch die schwache Konjunktur soll ihren Anteil daran haben, obwohl schon seit Mitte der 70er Jahre selbst eine starke Konjunktur keine Absenkung der Arbeitslosigkeit erreicht hat. Das stetige Ansteigen wird vor allem als Zeichen des Versagens von Wirtschaft, Politik oder allen gemeinsam gedeutet. Unserem Land fehlen angeblich die Mittel, das Kapital, um Investitionen zu tätigen, die neue Arbeitsplätze schaffen. Benötigen wir diese Arbeitsplätze denn tatsächlich? Spricht nicht alles dafür, unseren wirtschaftlichen Erfolg auch darin zu erkennen, steigende Wertschöpfungsleistung mit abnehmender dafür notwendiger Arbeitsleistung zu erreichen?
Begännen wir nun, diesen Erfolg zu verteilen, indem wir die zu erbringende Arbeitsleistung pro Kopf unter den Bürgern aufteilten, würden wir Arbeit wie ein Gut behandeln, an dem alle teilhaben müßten. Wer entscheidet denn darüber, wieviel jeder arbeiten darf, wenn Arbeit verteilt werden soll? Auch hier müßte es wieder eine Verteilungsinstanz geben, d.h. bürokratische Kontrolle.
Leistung gedeiht immer nur durch die Hingabe an eine Aufgabe; sie zu lösen bedarf einer Anstrengung und diese Anstrengung nimmt auf sich, wer sie als Herausforderung betrachtet. Aber kann und muß diese Aufgabe jeder in der Erwerbsarbeit finden? Oder wollen wir es dem Einzelnen überlassen, worin er seine Herausforderung erkennt?
Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung, die sowieso nicht auf alle Berufe Anwendung finden könnte, würde ein formales Kriterium zum Maßstab von Arbeitsleistung erheben, statt die Arbeitsleistung selbst als Kriterium zur Geltung zu bringen. Darüber, ob sie erbracht worden ist, kann nur derjenige entscheiden, der die Leistung erbringt und derjenige für den sie erbracht wird. Statt bürokratischer Leistungskontrolle wollen wir eine Leistungskontrolle durch diejenigen, die die Leistung beurteilen können. Sowohl Arbeitnehmern als auch Arbeitgebern kann an einer bloßen Erhöhung der Arbeitsmenge nicht gelegen sein, wenn damit keine Leistungssteigerung einhergeht. Das „Absitzen“ von Arbeitszeit bzw. die formale Verkürzung durch Umverteilung von Arbeit ist genauso frustrierend und entwürdigend, wie die Stigmatisierung durch Kontrolle. Darüber besteht kein Zweifel.
Die eine wie die andere Diagnose, also mangelnde Investition oder mangelnde Umverteilung, setzen beide eines voraus: Arbeit soll weiterhin die zentrale Quelle von Einkommen und Sinnstiftung in unserem Land sein. Obwohl wir wissen, daß Vollbeschäftigung nur erreicht werden kann, wenn wir bereit sind, Tätigkeiten als Arbeit zu deklarieren, die wir schon lange automatisiert haben, sollen wir daran festhalten. Aus diesem Grund ist der Arbeitsmarkt heute kein wirklicher Markt: die Notwendigkeit, ein Einkommen zu erwerben, um den Lebensunterhalt zu verdienen, erlaubt es insbesondere Familien nicht, über einen längeren Zeitraum auf ein Arbeitseinkommen zu verzichten. Bei einem Überangebot an Arbeitskraft degeneriert der Wettbewerb um leistungsbereite Arbeitnehmer dazu, ihn in einen Wettbewerb um Lohnkosten umzudefinieren. Weder den Unternehmen ist dies langfristig förderlich, noch kann uns daran gelegen sein, Bürger vom Erfolg unseres Wirtschaftens dauerhaft auszuschließen. Solange aber Einkommen an Erwerbsarbeit gebunden bleibt und alle Ersatzeinkommen nur Übergangseinkommen sind, schließen wir Bürger von der Teilhabe an diesem Erfolg aus, wir bestrafen sie mit Stigmatisierung.
Wie stark diese Auffassung der Verteilung von Einkommen über Arbeit noch in den großen Parteien vorherrscht, erkennen wir an diversen Entscheidungen und Programmatiken. Wie sehr sich darin die Parteien einig sind, Arbeit sei zu einem Zweck an sich geworden, zeigen Wahlslogans der vergangenen Bundestagswahl: „Sozial ist, was Arbeit schafft“ (CDU/CSU), „Arbeit soll das Land regieren“ (PDS), „Brüder, durch Sonne zur Arbeit“ (Bündnis 90/Die Grünen). Oder auch „Arbeit muß sich wieder lohnen“ (FDP) und „Arbeitsplätze sind für uns die schönsten Plätze in Deutschland“ (SPD).
Sowohl das „Jobaqtiv“-Gesetz der Bundesregierung und die Hartz-Vorschläge wie auch das „Offensiv“-Gesetz der Hessischen Landesregierung zeichnen sich durch eine Verschärfung der Zumutbarkeit von Arbeit für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger aus. Obwohl die Hoffnungen, die in solche Maßnahmen gesetzt werden, unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorhaben als Phantasien bezeichnet worden sind, wird dennoch an ihnen festgehalten.
Sozialhilfe empfängt aber doch ein Bürger unseres Landes nicht, weil er den Komfort und die großzügigen Leistungen, die mit ihr verbunden sind, schätzt. Wer in eine solche Notlage gekommen ist, dem sind andere Wege verschlossen. Ihm ist es in der Regel gar nicht möglich, ein normales Erwerbsverhältnis einzugehen, um auf diesem Weg ein Einkommen zu beziehen. Diejenigen, die – in seit Jahren bekannter geringer Zahl – tatsächlich einen Sport aus dem Leistungsbezug gemacht haben, versuchen doch nichts anderes, als die Stigmatisierung in einen persönlichen Vorteil umzudeuten: dies aber ist eine verzweifelte Reaktion auf die Stigmatisierung. Es wird immer Bürger in unserer Mitte geben, die nicht in der Lage sind, am Erwerbsmodell teilzunehmen, und wir sollten uns fragen, ob wir sie dennoch als Bürger im vollen Sinne des Wortes verstehen wollen oder sie als Last definieren. Wenn wir uns für ersteres entscheiden, dann müssen wir auch die Bedingungen schaffen, die ein menschenwürdiges Leben nach unserem Verständnis erlauben. Das kann nur heißen, ein Leben zu ermöglichen, in dem Bürger für ihre Lebensgeschichte nicht auch noch mit Stigmatisierung bestraft werden.
Technologischer Fortschritt und Automatisierung
Seit Mitte der 70er Jahre besteht strukturelle Massenarbeitslosigkeit, die maßgeblich Resultat der technologischen Entwicklung und der durch sie ermöglichten Ersetzbarkeit menschlicher Arbeitskraft ist. Diese Ersetzbarkeit menschlicher Arbeitskraft durch Maschinenlösungen wurde historisch durch die tayloristische Zerlegung von Arbeitsschritten vorbereitet. Damit war eine Voraussetzung zur Formalisierung der Arbeitsschritte geschaffen, die dann nur noch in maschinell abzuarbeitende Routinen übersetzt werden mußten. Mit der Entwicklung des Computers als einer Maschine der Steuerung von angeschlossenen Peripheriegeräten aller Art haben sich die Möglichkeiten der Automatisierung erheblich erweitert. Die Automatisierungslösungen sind durch die Trennung von Hardware und Software viel flexibler, als dies bei früheren Maschinen noch der Fall gewesen ist. Die Flexibilität und der hohe Formalisierungsgrad erlauben in sehr viel größerem Maße als zuvor, neu einzurichtende Arbeitsvollzüge von vornherein zu automatisieren. Wir können davon ausgehen, daß die Ersetzung von lebendiger Arbeitskraft durch Maschinen in einem Umfang fortschreitet, welcher nicht mehr durch das naturwüchsige Entstehen neuer Arbeitsplätze kompensiert wird. Die entscheidende Frage wird nun sein: schaffen wir Bedingungen, damit Automatisierungspotentiale zukünftig offensiv genutzt werden können, ohne daß absehbar ist, wie viele Arbeitsplätze dadurch ersetzt werden? Oder verhindern wir die Nutzung dieser Automatisierungspotentiale, indem wir unternehmerischen Erfolg durch das Festhalten am Vollbeschäftigungspostulat bestrafen? Menschliche Arbeitskraft tritt dann in Wettbewerb zu Maschinenlösungen und wird nur aufgrund eines geringeren Preises bevorzugt. Damit hemmen wir die Automatisierung und damit die Rückgewinnung von Lebenszeit. Eine solche Politik würde einen Rückschritt statt einen Fortschritt von Freiheit bedeuten.
Wohlstand durch Automatisierung
In welchem Maße bestehende Automatisierungspotentiale genutzt werden, hängt also wesentlich vom herrschenden politischen Konsens und den ihm zugrundeliegenden Wertentscheidungen ab. Die volle Ausnutzung der Automatisierungs- und Rationalisierungspotentiale wird gegenwärtig durch den politischen Konsens verhindert. Ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit muß ihm zufolge vermieden werden, womit zugleich auch Automatisierung verhindert wird. Denn jede Einsparung von Arbeitsplätzen vergrößert die Massenarbeitslosigkeit, läßt also die Zahl derjenigen wachsen, die auf eine Einkommenshilfe angewiesen sind und von Erwerbsarbeit ausgeschlossen werden. Es kommt zu der folgenden paradoxen Situation: Die durch fortschreitende Rationalisierung hervorgerufene Arbeitslosigkeit erscheint als Übel, obwohl sie als solche nicht Ausdruck von Armut oder Mißwirtschaft ist, sondern gerade ungekehrt Ausdruck erfolgreichen Wirtschaftens, technologischen Fortschritts und von Wohlstand. Wohlstand ist hierbei nicht vor allem ein Geldwert, Wohlstand ist das Maß an Handlungsmöglichkeiten, die einem zur freien Wahl stehen. Wir sind in dieser Hinsicht schon ein reiches Land, könnten aber noch reicher werden.
Unternehmer und Automatisierung
Für Unternehmer hat diese paradoxe Situation ein Dilemma zur Folge. Als Unternehmer müßten sie eigentlich die zur Verfügung stehenden Automatisierungspotentiale voll auszuschöpfen trachten, um den Wertschöpfungsprozeß zu optimieren. Das können sie aber aufgrund der Folgen für die Beschäftigungslage nicht. Einerseits wollen wir, die Bürger unseres Landes, daß die Innovativität der Wirtschaft zunimmt. Andererseits wollen wir aber auch, daß Unternehmen Arbeitsplätze schaffen und zwar heutzutage beinahe um jeden Preis. Diese Paradoxie macht es unmöglich, die Automatisierungs- und Innovierungschancen zu nutzen, wenn wir gleichzeitig die Unternehmer kritisieren, wenn sie Technologie nutzen, und damit menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzen.
Eine rationalisierende Einsparung von Arbeitsplätzen ist für Unternehmer heute im Prinzip nur dann gegenüber der Öffentlichkeit legitimiert, wenn sie sich zur Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit und damit der Existenz ihrer Unternehmen gar nicht mehr umgehen läßt. Man deutet sie damit als Übel, anstatt in ihr einen Erfolg zu erkennen, etwas, was wir erstreben sollten. Statt ein Prinzip unternehmerischen Handelns zu prämieren, nämlich die Schonung von Ressourcen – Humankapital – durch den Einsatz von Technologie, verdammen wir es.
Automaten, menschliche Arbeitskraft und berufliche Sinnstiftung
Was ist aber die Folge dessen, daß wir die Automatisierungspotentiale derjenigen Arbeitsplätze, die aus standardisierbaren Routinen bestehen und deswegen durch Maschinenlösungen substituierbar sind, nicht nutzen? Für diejenigen, deren Arbeitsplätze automatisierbar sind, ist es offenkundig: sie haben die Arbeitsplätze nicht wegen ihrer Arbeitsleistung inne, sondern, so wird behauptet, weil sie billiger als Maschinenlösungen seien. Sie arbeiten in dem mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein, daß ihre Tätigkeiten im Prinzip überflüssig sind. Eine Sinnerfüllung und Selbstverwirklichung ist auf dieser Grundlage nicht mehr möglich, weil das Wissen um die Substituierbarkeit die Arbeitsleistung entwertet. Damit zerstören wir ein für unseren wirtschaftlichen Erfolg entscheidendes Moment: die Leistungsbereitschaft. Diese müssen wir aber fördern und schützen, wenn wir langfristig Autonomiechancen durch Leistung hervorbringen und nutzen wollen. Dazu bedarf es einer erfolgreichen Wirtschaft und vor allem: eines Innovations- und Leistungsgeistes.
Gerade deswegen müssen wir uns fragen: Was wollen wir langfristig? Wollen wir die Chancen der Technologie nutzen und Lebenszeit zurückgewinnen, die wir nicht mehr in Erwerbsarbeit stecken müssen – ein Privileg, das wir heute im Vergleich zu Generationen vor uns haben. Dann müssen wir eine Lösung dafür finden, wie wir ein Einkommen erhalten können, das ein reguläres ist – also keine Sonderleistung, sondern eine Normalität.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für alle Bürger
Freiheit und Verantwortung
Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger von der Wiege bis zur Bahre wird ohne Bedürftigkeitsprüfung jedem Bürger gewährt, Erwachsenen wie Kindern gleichermaßen.
Jeder Bürger erhält dieses Grundeinkommen unabhängig davon, ob er darüber hinaus noch ein Erwerbseinkommen oder sonstige Einkommen z.B. aus Kapitalvermögen, Immobilienbesitz, Erbvermögen usw. bezieht.
Je höher das bedingungslose Grundeinkommen ist, desto mehr fördert es die Freiheit, Verantwortung im Gemeinwesen zu übernehmen, ohne sich um das eigene Auskommen sorgen zu müssen – es sollte deswegen so hoch als möglich sein.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Staatsbürger schlägt einen ganz anderen Weg ein, als die bislang bestehenden Sicherungssysteme und auch als die bislang diskutierten Modelle einer bedarfsorientierten bzw. garantierten Grundsicherung oder einer Negativen Einkommensteuer.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist kein Ersatzeinkommen, wie die Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder auch das Arbeitslosengeld. Es würde alle bisherigen Transferleistungen ersetzen und steht auf einer anderen Legitimationsgrundlage: es ist ein Bürger-Einkommen – es steht jedem Bürger zu, ohne Beiträge gezahlt zu haben oder bedürftig zu sein.
Ersatzeinkommen, deren Gewährung an die Erfüllung des Erwerbsmodells gebunden sind, erzeugen eine normative Kraft, die dem Bürger sagt: nur wer arbeitet, leistet einen Beitrag zum Gemeinwohl. Deswegen stehen diese Einkommen gegenwärtig auch nur dem zu, der nicht in der Lage ist, sich finanziell selbst zu versorgen. Ein solches Einkommen ist also ein Einkommen für Ausnahmen. Solange Sozialleistungen diesen Status behalten, gilt Erwerbsarbeit als normative Verpflichtung, der zufolge jeder danach streben soll, nach eigenen Möglichkeiten ein Einkommen zu erwerben.
Wer ein Ersatzeinkommen bezieht, erfährt eine Stigmatisierung, ganz gleich, ob er das will oder nicht.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen demgegenüber stärkt die Autonomie und Integrität der Bürger, denn jeder Bürger wird als Bürger anerkannt. Es gibt keine Bürger zweiter Klasse.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen läßt sich als eine Art Wertschöpfungsdividende betrachten. Die wirtschaftliche Wertschöpfung erfolgt ja auf der Grundlage der Leistung vorangehender Generationen, insbesondere auf der Basis der von der Allgemeinheit erzeugten Kulturleistungen und über technologischen Wissens. Weil diese Grundlage durch das Leben und die Arbeit vieler Generationen hervorgebracht wurde, ist sie Eigentum aller. Jeder Bürger unseres Gemeinwesens kann sich gleichermaßen als Erbe dieser Leistung begreifen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird vielfältige Auswirkungen haben und uns Chancen eröffnen, die wir heute noch kaum erahnen. Auf jeden Fall drückt sich in ihm eine grundlegende Anerkennung der Bürger aus, womit Freiheit und Bereitschaft aller gestärkt wird, Verantwortung in unserem Gemeinwesen zu übernehmen.
Stärkung der Familie
Ein bedingungsloses Grundeinkommen stärkt die Familie. Sie sieht sich heute nicht selten vor die Frage gestellt: entweder erhebliche Einkommenseinbußen in Kauf zu nehmen, damit sie für ihre Kinder sorgen kann, oder ihre Kinder verhältnismäßig früh in die Obhut von Betreuungseinrichtungen zu geben.
Wir wissen aber nicht, und darüber können Expertenaussagen nicht hinwegtäuschen, welche Auswirkungen dies auf unsere Kinder hat. Je früher sie in Einrichtungen gegeben werden, desto größer sind wahrscheinlich die Folgen. Denn keine emotionale Bindung ist stärker als die der Eltern zu ihren Kindern. Sie ist es, die die Eltern sich stets um ihre Kinder sorgen läßt; sie ist es, die Unwägbarkeiten und Offenheiten des Erziehens durchzustehen ermöglicht. Sie ist es, die Eltern permanent darauf aufmerksam sein läßt, was für ihre Kinder das Beste sein könnte.
Eltern, die selbst diese Zuwendung und Fürsorge in ihrer eigenen Kindheit erfahren haben, werden sie ihren Kinder selbstverständlich zuteil werden lassen. Die Popularität von Kinderkrippen und Ganztagsbetreuungseinrichtungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bindung an die Kinder dort nicht in derselben Intensität besteht. Gerade in den frühen Jahren aber ist sie besonders wichtig.
Unsere gegenwärtige Ausrichtung an beruflichem Erfolg, an dem Mütter wie Väter sich orientieren sollen, führt zu einer Vernachlässigung unserer Kinder. Der berufliche Erfolg ist so wichtig geworden, daß wir bereit sind, Kinder schon früh der familialen Geborgenheit, diesem Schutzraum, zu entwöhnen.
Statt einer weiteren Verstärkung der Erwerbsorientierung, wie sie gegenwärtig alle großen Parteien vertreten, sollten wir es den Eltern überlassen, wie sie sich zu dieser Frage stellen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglicht es ihnen, sich der Erziehung und Fürsorge ihrer Kinder zu widmen, ohne sich um die Existenzsicherung der Familie zu sorgen. Beide Eltern könnten gleichermaßen sich Zeit nehmen, hätten die Chance, für ihre Kinder da zu sein. Für die Mütter würde dies eine große Entlastung bedeuten, wenn auch Väter mehr zuhause wären als heute. Für die Familie insgesamt wäre die Anwesenheit der Väter wünschenswert.
Wenn Kinder, wie es so häufig heißt, unsere Zukunft sind, dann wird es höchste Zeit, daß wir Bedingungen schaffen, unter denen die Chance eines gelingenden Aufwachsens größer ist als heute.
Ein weiterer für das Erwachsenwerden der Kinder interessanter Aspekt des bedingungslosen Grundeinkommens ist die Unabhängigkeit, die es den Jugendlichen ermöglicht. Gerade manche in der Adoleszenz drastischen Konflikte im Zuge der Ablösung vom Elternhaus würden wahrscheinlich ein wenig anders verlaufen, wenn der Jugendliche über eine eigene Einkommensquelle verfügte. Er müßte früher schon Verantwortung dafür übernehmen, wie er mit diesem Einkommen verfährt, wozu er es nutzt.
Innovation und Muße
Ein bedingungsloses Grundeinkommen stärkt den Geist der Neuerung. Es verschafft eine finanzielle Absicherung, die Müßiggang erlaubt und fördert. Er ist die Voraussetzung für die Entstehung von Neuem, dem Entwickeln von Ideen und der Beschäftigung mit Dingen um ihrer selbst willen. Es verwundert nicht, wenn heute Untersuchungen zeigen, daß ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen der sozialen Sicherheit, die eine Gemeinschaft gewährt, und der Innovativität und wirtschaftlichen Leistung, die sie vollbringt.
Innovative Ideen können also frei entwickelt werden, Existenzsorgen müßte niemand haben. Das Entwickeln von Ideen wäre nicht von der Marktgängigkeit abhängig. Das bedingungslose Grundeinkommen würde es erlauben, die Zeit zu überbrücken, bis eine Idee aufgenommen wird oder auch in Form eines Produktes am Markt Absatz findet. Gerade heute gerät uns die Abhängigkeit von Absatzchancen in der Entwicklung von Ideen zu einem großen Nachteil, und zwar nicht nur in der Wirtschaft. Der Ruf nach Verwertbarkeit oder praktischer Nutzbarkeit lähmt die Bereitschaft, das Unbekannte zu erkunden. Sie lähmt die Bereitschaft, sich auf Ungewisses einzulassen – das Neue aber ist immer unbekannt und natürlich ungewiß, seine Erkundung müssen wir fördern.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde die Freiheit zur Muße gewährleisten und vor allem: das müßige Ideenentwickeln würde in seiner Bedeutung für die politische Gemeinschaft anerkannt und nicht mehr mit dem Makel der „Spinnerei“ verbunden. Muße würde zur Selbstverständlichkeit. Innovativität bzw. Kreativität wären der Maßstab, an dem jede Tätigkeit, auch jede Erwerbstätigkeit, sich messen lassen müßte.
Muße, um hier ein mögliches Mißverständnis auszuräumen, hat zu seiner Voraussetzung kein Bildungszertifikat. Sie ist nicht etwas, zu dem man einen Zugang zu erwerben hat. Erfahrung aus Muße beginnt schon dort, wo Kinder neugierig die Natur beobachten, wo sie beobachten, wie sich Insekten fortbewegen. Sie erkunden dies um ihrer selbst willen, um zu verstehen, was dort vor sich geht.
Neugierde und Erfahrung
Neugierde und Naivität müssen gefördert werden, sie sind es, die Erfahrung eröffnen. Von den Chancen, als Kind und Jugendlicher Neugierde zu entfalten, hängt es ab, wie sehr man als Erwachsener bereit ist, sich dem Unbekannten zu überlassen, um es zu erforschen. Schon im Kindergarten und in der Schule sollte dies also zum Prinzip werden. Auch dort muß Freiheit zu Erfahrung durch Vertrauen zur Maxime werden.
Vertrauen in Neugierde und in die Verantwortung der Eltern erlauben eine solche Freiheit. Sie werden leicht einwerfen können, daß Eltern heute ihrer Verantwortung nicht mehr entsprechen, Kinder sich für alles, nur nicht für die Schule interessieren. Welchen Anteil daran tragen Ordnungen, die wir uns geschaffen haben? Fördern die Bildungseinrichtungen Neugierde, sind sie darauf gegründet? Und werden die Eltern nicht allzu oft bevormundet oder wird ihnen nicht gar mißtraut? Können wir die Verweigerung von Schülern, mitzuarbeiten, nicht ebenso gut als Protest dagegen verstehen, daß sie nicht ernstgenommen werden?
Dies müssen wir bedenken, wollen wir nicht vorschnell Schlüsse darauf ziehen, woher manche unsere Probleme heute rühren.
Damit Neugierde gefördert wird, müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen und das bedingungslose Grundeinkommen ist ein einfacher Weg, um dies zu erreichen. Neuerungen entstehen dort, wo Verwertung nicht der erste Zweck ist, sondern das freie Erkunden des Unbekannten.
Leistung und Anerkennung
Ein bedingungsloses Grundeinkommen eröffnet die Möglichkeit, statt einer Erwerbsarbeit einer Tätigkeit außerhalb des Erwerbsfeldes nachzugehen. Ein permanentes Bemühen darum, eine Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen, ist auf der Basis eines ausreichenden Grundeinkommens weder finanziell notwendig noch normativ geboten.
Damit unterscheidet es sich auch radikal von dem Vorhaben einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung unter Beibehaltung der Erwerbsverpflichtung: Sie vergibt die Chance auf einen Freiheitsgewinn. Gemäß der Arbeitsumverteilung muß jeder Bürger bemüht sein, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Dies kann nur derjenige für notwendig halten, der der Auffassung ist, es könne kein erfülltes Leben ohne Erwerbsarbeit geben.
Während die allgemeine Arbeitsumverteilung also am normativen Gebot der Erwerbsarbeit für alle festhält, befreit das bedingungslose Grundeinkommen von ihr. Nur es eröffnet eine radikale Entscheidungsmöglichkeit. Dieser Freiheit entspricht eine Verantwortungszumutung: Ganz gleich, wofür man sich entscheidet, es muß eine vernünftige Antwort auf die Chance der Freiheit darstellen. Der Entscheidung der Gemeinschaft, die Freiheit der Bürger zu stärken, korrespondiert eine Verpflichtung dazu, die Freiheitschancen sinnvoll zu nutzen. Aber es wird nicht vorgeschrieben, worin das Sinnvolle besteht. Zum Gemeinwohl trägt der Einzelne dann bei, wenn er die Freiheit ergreift und sie vernünftig nutzt.
Wem das bedingungslose Grundeinkommen, das natürlich nur ein Grund-Einkommen ist, nicht ausreicht, der muss sich für den auch dann noch bestehenden Arbeitsmarkt qualifizieren. Er muss bereit sein, sich in den Dienst einer Sache zu stellen und an Problemlösungen mitzuarbeiten. Dadurch werden die Anforderungen an Arbeitskräfte weiter zunehmen. Standardisierbare und standardisierte Tätigkeiten werden fortschreitend durch Maschinen ersetzt werden.
Hieran ist leicht zu ersehen, wie sich ein bedingungsloses Grundeinkommen auf den Arbeitsmarkt durchweg positiv auswirkt. Qualifizierung – und damit: Leistungsbereitschaft – wird anerkannt und aufgewertet. In einem solchen Arbeitsmarkt werden nicht die Senkung von Lohnkosten, Minderqualifizierung und Arbeit um jeden Preis belohnt. Statt dessen werden Aufgeschlossenheit für Neues, freiwilliges Engagement für eine Sache und Leistung prämiert. Ein Wettbewerb um sachhaltige Qualifikation wird befördert und dadurch die Entstehung des Neuem zum Zweck der Arbeit.
Unternehmen müssen viel mehr als heute um leistungsbereite Mitarbeiter werben. Sie müssen ihnen gute Arbeitsbedingungen bieten, damit ihre Leistungsbereitschaft sich entfaltet, ja, sie überhaupt einen Arbeitsplatz annehmen. Arbeitnehmer, die sich unter Wert verkaufen, müßten jedem Unternehmen verdächtig sein. Ein Unternehmen, das Mitarbeiter gegeneinander ausspielt, wird sie angesichts eines bedingungslosen Grundeinkommens bald verlieren.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen fördert also sowohl die Entwicklung als auch die Nutzung technologischer Problemlösungen. Es fördert aber auch das Engagement für die politische Gemeinschaft und die Familie. Alle drei Bewährungsfelder werden einander gleichgestellt und treten nicht mehr wie heute hinter der Erwerbsarbeit zurück. Weitere Automatisierung wird dadurch ermöglicht und der unnötige Einsatz menschlicher Arbeitskraft in bestimmten Bereichen der Wertschöpfung verhindert. Die Bürger werden in ihrer Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, anerkannt – ihrer Gemeinwohlbindung wird vertraut.
Stärkung der Wirtschaft
Ein bedingungsloses Grundeinkommen stärkt die Wirtschaft, weil unproduktive Industrien und Wirtschaftszweige nicht aus politischen Überlegungen der Sozialverträglichkeit aufrechterhalten werden müssen. Subventionen, die heute in Wirtschaftsbereiche investiert werden, um sie künstlich marktfähig zu halten, stünden für andere Aufgaben zur Verfügung.
Wertschöpfung durch Leistung wäre wieder der Maßstab, an dem jedwede Tätigkeit sich messen muß.
Wir würden uns damit endlich von der Illusion befreien, subventionierte Erwerbsarbeit könnte überhaupt eine Anerkennung, eine Sinnstiftung, gewähren. Jeder, der heute schon einer solchen, automatisierbaren Arbeit nachgeht, erfährt täglich, dass er nur aus Kosten- nicht aber aus Leistungsgründen angestellt ist.
Was verbirgt sich nun hinter der Vorstellung, auch eine solche Arbeit könne sinnerfüllend sein? Worin drückt sich Arbeitsleistung aus, wenn sie nicht mehr an Erzeugnissen gemessen wird? Offenbar darin, daß überhaupt gearbeitet wird. Erheben wir dies zum Maßstab, werten wir Arbeit in eine Disziplinierungs- und Beschäftigungsmaßnahme um. Für notwendig kann dies nur erachtet werden, wenn davon ausgegangen wird, der Einzelne sei nicht selbst in der Lage ist, seine Zeit sinnvoll zu nutzen.
Will man eine solche Politik der Vergötterung von Arbeit, muß man Arbeit umverteilen. Will man statt dessen die Freiheit ergreifen, die sich uns bietet, bedarf es eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Automatisierung wäre dann erwünscht, wenn es unternehmerisch sinnvoll ist. Entlassene Mitarbeiter wären mindestens durch das bedingungslose Grundeinkommen abgesichert. Darüber hinaus könnte es eine Abfindungsregelung geben, die der Arbeitnehmer mit dem Unternehmen aushandelt. Auch für Unternehmen – und dies wird aus ideologischen Gründen häufig in Abrede gestellt – ist das Entlassen von Mitarbeitern eine schwierige Entscheidung. Unternehmen geraten, wenn sie Mitarbeiter entlassen wollen, gegenwärtig in einen Konflikt: Auf der einen Seite sollen sie innovativ sein und Ressourcen schonen. Dies geschieht auch durch die Nutzung von Technologie. Auf der anderen Seite sollen sie, dem politischen Konsens folgend, Arbeitsplätze schaffen, auch wenn sie diese nicht benötigen. Entscheiden sie sich für ersteres, werden sie kritisiert; entscheiden sie sich für die zweite Option, müssen wir sie auch kritisieren. Denn zu ihren Aufgaben gehört es, technologische Problemlösungen in vollem Umfang einzusetzen. Wo Unternehmen darauf verzichten, verzichten wir darauf Lebenszeit zurück zu gewinnen. Technologienutzung ermöglicht eine Befreiung von repetitiver und stupider Arbeit. Jede der genannten Entscheidungen zeitigt heute unerwünschte Folgen. Aus diesem Dilemma können wir nur hinausgelangen, wenn Automatisierung erstrebenswert wird, ein gewünschtes Ziel, und Einkommen nicht mehr über Erwerbsarbeit erzielt werden muß.
Da das bedingungslose Grundeinkommen eine Entscheidungsoption schafft, würde Erwerbsarbeit aus freiem Entschluß geleistet. Freiwilligkeit ist die Grundlage besonderer Leistungsbereitschaft. Wer sich also trotz eines Grundeinkommens dafür entscheidet, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, wird dazu besonders motiviert sein. Die Wirtschaft könnte auf leistungsbereite Mitarbeiter setzen und damit die Entstehung von Neuerungen befördern. Allerdings wären diese Mitarbeiter auch besonders autonom. Unternehmen müssen gute Arbeitsbedingungen bieten, um diese Mitarbeiter an sich zu binden, sie langfristig zu halten. Was heute mindestens für die sogenannten „High Potentials“ schon gilt, würde zukünftig für alle Mitarbeiter gelten.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen eröffnet diese Freiwilligkeit, die eine Voraussetzung für Innovativität und die Bereitschaft, sich in den Dienst eines überindividuellen Zwecks zu stellen, ist. Damit werden Potentiale der Wertschöpfung nutzbar, die heute schlummern.
Abbau von Bürokratie und hemmender Kontrolle
Ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglicht einen umfassenden Abbau von Bürokratie in allen Bereichen, auch in den Sozialsystemen. Denn heute noch durchgeführte Kontrollen und Bevormundungen sind nicht mehr notwendig: Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird nicht kontrolliert. Weder das Sozial- noch das Arbeitsamt würden in seiner gegenwärtigen Form bestehen bleiben.
Wir müssen darauf vertrauen, daß die Bürger schon wissen oder herausfinden werden, wie sie die Chancen eines bedingungslosen Grundeinkommens am Vernünftigsten nutzen. Wir benötigen keine Volkspädagogen, die uns an der Hand nehmen, sondern Politiker, die Entscheidungen für einen Zugewinn an Freiheit treffen. Anerkennung der Bürger statt Bevormundung ist unser Ziel. Freiheitsgewinn und Verantwortungszumutung sind mit dem bedingungslosen Grundeinkommen verbunden.
Wollen wir eine langfristige Lösung gegenwärtiger Probleme erreichen und die Chance auf einen Zugewinn an Freiheit nutzen, dann, so sind wir überzeugt, müssen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen.
Steuern und Besteuerung
Ein bedingungsloses Grundeinkommen sollte mit der Umgestaltung unseres Steuerwesens und auch der Besteuerungsprinzipien einhergehen. Vergleichbar radikal und einfach wie das bedingungslose Grundeinkommen in all seinen Momenten ist der Vorschlag von Götz Werner und Benediktus Hardorp, von der Ertragsbesteuerung (Einkommen und Gewinne) vollständig Abschied zu nehmen (siehe http://www.iep.uni-karlsruhe.de/seite_469.php). Sie plädieren für die Umstellung auf eine Verbrauchssteuer (Konsumsteuer), die im Inland erhoben würde. Nicht der nominale Geldbesitz würde dabei besteuert, sondern seine Nutzung. Denn für unser Gemeinwesen ist nicht entscheidend, daß ein Bürger erhebliche Geldwerte besitzt, entscheidend ist, wozu er sie einsetzt.
Eine solche Besteuerung prämierte Ressourcenschonung, denn hoher Verbrauch von Ressourcen ginge mit hohen Kosten durch Besteuerung einher. Dies würde schon bei der Erzeugung von Gütern, für die Ressourcen aufgewendet werden müssen, greifen. Denn schonende Ressourcennutzung würde hier zu Kostenreduzierung führen. Investitionen und Konsum würden nicht mehr gleichbehandelt. Nicht mehr Beiträge zur Wertschöpfung, also Investitionen, produktive Erwerbsarbeit, unternehmerische Innovationen, würden durch Besteuerung belastet, sondern der Konsum: Nicht die Schaffung von Werten würde besteuert, sondern ihr Verzehr.
Die Umstellung auf eine Konsumsteuer und die Abschaffung anderer Steuerabschöpfungen hätte vielfache Konsequenzen. Der Wertschöpfungsprozeß erführe eine enorme Entlastung im Vergleich zu heute. Ökonomisch führte die Konsumsteuer zu einer Entlastung des Exports und zu einer Belastung des Imports. Importwaren würden durch die Konsumsteuer genauso besteuert wie im Land erzeugte Güter. Der inländische Wertschöpfungsprozeß würde damit gegenüber dem ausländischen Wertschöpfungsprozeß nicht mehr so benachteiligt sein wie heute.
In Verbindung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen führte die Konsumbesteuerung zu einer radikalen Reduktion der sogenannten Lohnnebenkosten, denn das Grundeinkommen ersetzte gegenwärtige Transferleistungen vollständig. Das Grundeinkommen würde nicht über Sozialversicherungsbeiträge finanziert, sondern über die Konsumsteuer. Dies entlastete die Arbeitskosten der Unternehmen. Den Wertschöpfungsprozeß befreiten wird dadurch von einer erheblichen Belastung, die er heute zu tragen hat. Administrativ ermöglichte eine Konsumbesteuerung eine enorme Vereinfachung und den Abbau von Bürokratie. Auch die Mittel, die durch solche Einsparungen entstehen, stünden der Finanzierung des Grundeinkommens und anderer staatlicher Aufgaben zur Verfügung.
Um unterschiedliche Gütergruppen und Dienstleistungen unterschiedlich zu besteuern, bedürfte es einer Staffelung der Konsumsteuer nach Güter- bzw. Dienstgruppen. Solche Güter, die dem täglichen Bedarf dienen, sollten niedriger besteuert werden als Luxusgüter. Auch hier gälte das Prinzip: wer mehr konsumiert, zahlt mehr.
Die Umstellung unseres Steuerwesens auf eine Konsumbesteuerung folgt dem Prinzip, das auch dem bedingungslosen Grundeinkommen zugrunde liegt: Engagement für das Gemeinwesen und Bereitschaft zu innovativer Leistung zu ermutigen und zu stärken. Nur eine solche Politik stärkt langfristig unser Gemeinwesen.
Finanzierung
Einer der häufigsten, beinahe reflexartig vorgebrachten Einwände zielt auf die Frage, wie das denn alles zu finanzieren wäre. Wer soll das bedingungslose Grundeinkommen bezahlen angesichts der leeren Kassen und der vermeintlich notwendigen Sparmaßnahmen?
Die erste Entgegnung, die an dieser Stelle notwendig ist, bezieht sich auf einen simplen Umstand. Wollen wir überhaupt ein bedingungsloses Grundeinkommen? Diese Frage ist politisch zu entscheiden, ebenso wie die Höhe, in der es liegen sollte. Bevor wir nicht wissen, was wir wollen, wie das bedingungslose Grundeinkommen genau aussehen wird, können wir über Kosten gar nicht reden. Der Berechnung muß also eine Entscheidung vorausgehen.
Wir können dies aber auch aus weiteren Gründen nur in Gestalt von Vermutungen. Wollten wir die Finanzierungsfrage beantworten, müßten uns ausreichende Informationen über die tatsächliche Wertschöpfungsleistung in Deutschland in der Zukunft vorliegen. Diese können wir nicht vorhersagen, weil wir nicht wissen, wie sich das Grundeinkommen tatsächlich auswirken wird. Wir wissen heute nicht, über welche Werte wir in der Zukunft verfügen werden. Wer also einwendet, das bedingungslose Grundeinkommen sei zukünftig nicht finanzierbar, setzt stillschweigend voraus, wir seien in der Lage, über unsere Zukunft etwas prognostizieren zu können. Hellseherische Fähigkeiten besitzen wir nicht.
Wie sieht es nun aus, wenn wir Behelfszahlen zur Berechnung gegenwärtiger Wertschöpfung heranziehen, die das Statistische Bundesamt zur Verfügung stellt?
Diese Zahlen geben zum einen immer nur vergangene Werte wieder. Sie sagen uns also nichts über die Gegenwart und schon gar nicht über die Zukunft. Zum anderen stellen sie ein Artefakt dar. In diesen Zahlen kommt nur zum Ausdruck, was auch gemessen worden ist. Darüber hinaus entsprechen die Zahlenwerte gegenwärtigen Preisrelationen. Die Veränderungen im Preisgefüge und der Kaufkraft können wir nicht vorher sagen. Preise richten sich ja auch nach der Wertschätzung eines Gutes. Güter können unter veränderten Lebensbedingungen schnell an Bedeutung und damit an Wert verlieren, Gütermärkte sich im Gefolge davon wandeln.
Ein weiterer nur zu vermutender, aber nicht vorsagbarer Wandel ist nicht berechenbar, und zwar die sich wandelnde Wertschätzung und Honorierung bestimmter Berufe. Solche Berufe, wie z.B. im Bereich der Pflege, die heute eher als schlecht bezahlt, aber unerläßlich und fordernd gelten, würden wahrscheinlich eine größere Wertschätzung, damit auch eine bessere Honorierung erfahren.
Zu guter Letzt wird in den statistischen Erhebungen nicht erfaßt, welche Finanzmittel dadurch frei werden, daß demotivierende Effekte gegenwärtiger Regelungen mit einem Grundeinkommen beseitigt würden. Auch wissen wir wenig bis gar nichts über das nicht genutzte Automatisierungspotential.
All diese Unwägbarkeiten sind zu beachten, wenn die Frage nach der Finanzierung erhoben wird. Entscheiden wir uns für ein bedingungsloses Grundeinkommen, dann wären auf der Grundlage dieser Überlegungen von Experten die Frage zu beantworten, in welcher Höhe ein bedingungsloses Grundeinkommen möglicherweise finanziert werden kann. Dabei besteht die Schwierigkeit nicht zuletzt darin, eine seriöse Finanzierungsrechnung vorzulegen, die immer den status quo nicht aber die Zukunft zugrunde legt. Nicht berechnen, nur vermuten können wir, welche langfristigen Veränderungen in allen Bereichen unseres Lebens durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens sich vollziehen werden.
Entscheidend bleibt endlich die Frage für die Gegenwart und sie ist nicht finanztechnisch zu beantworten: Was wollen wir, welchen Weg wollen wir in Zukunft gehen? Ein bedingungsloses Grundeinkommen bietet eine langfristige Lösung mit Chancen für unsere politische Gemeinschaft; wir könnten damit in der gegenwärtigen Krise einen neuen Weg beschreiten.
Sascha Liebermann
14.10.2005
(Dieser Text stammt aus den Anfängen unseres Engagements. Durch die intensive Befassung mit den Fragen rund um das Bedingungslose Grundeinkommen seitdem haben sich unsere Überlegungen differenziert und präzisiert. Siehe dazu unser Blog – mit Suchfunktion – oder auch die Rubrik Texte und Literatur)